Der Kampf ums leere Blatt

Hast du dir schon mal Gedanken gemacht, wie der Alltag eines Autors aussieht?

Nehmen wie einfach mal an, der Schreibende hätte eine Idee, was er denn so zu Papier bringen möchte. Das ist leider nicht immer so, aber darüber will ich jetzt nicht sprechen. Die Idee ist also vorhanden. Protagonist und Antagonist haben sich vorgestellt, und betreten die Arena. So nennen wir, oder vielleicht auch nur ich, den Platz, an dem sich die beiden Kontrahenten gegenüberstehen und den Konflikt, der zwischen den beiden vorhanden sein sollte, austragen.

Eine Arena kann dabei alles Mögliche sein. Es ist weder nötig, dass es sich um eine Fußball-, Rugby-, Cricket- oder Boxarena handelt. Ein Wald, eine Insel mitten im Nichts oder eine Wohnung in der feinsten Gegend von Wunderschön passt genauso, wie die Straßenschluchten einer Großstadt. Der Konflikt muss noch nicht einmal physischer Natur sein. Hauptsache, er ist da und die beiden gehen auf interessante Weise aneinander an die Gurgel. Die einfachste Art zu erkennen, ob etwas nicht stimmt ist, wenn nichts passiert. Charaktere zeigen meist die unangenehme Eigenschaft einen eigenen Kopf zu haben.

In diesem Fall kann es sein, dass der Autor auf einmal mit dem Blatt Papier zu reden scheint. Keine Angst, der er weiß, dass das Papier nicht antworten kann. Er spricht auch nicht mit dem Fetzen aus gepressten Holzspänen, etwas Leim und Farbe. Ziel seiner Ansprache sind meist die mit Tinte geschriebenen Worte oder auch die Worte, die sich einfach nicht schreiben lassen wollen. Das klingt jetzt ein wenig verrückt, ich weiß, aber der Konflikt, der in Form einer Geschichte fixiert werden soll, fängt immer in einem selbst an.

Der Autor oder die Autorin fängt also mit Personen, die gar nicht anwesend, zu reden an. Mich persönlich regt in solche Situationen am meisten auf, dass sich etwas, das gar nicht existiert, weigern kann. Ich bin der Autor und bestimme, was wann wie geschieht. Einer Phantasiegestalt steht dieses Recht eigentlich gar nicht zu.

Diese Situation wird meist als Schreibblockade bezeichnet. Die alles hemmende Person ist jedoch imaginärer Natur. Die reale Person, damit ist der Autor gemeint, ist oft zu unerfahren und fordert in solchen Fällen von seinen imaginären Charakteren etwas, dass sie niemals tun würden. Im Filmgeschäft wird in solchen Fällen von einem schlechten Casting oder einem überforderten Regisseur gesprochen. Sei es nun die Regie führende oder ausführende Person, irgendjemandem im Team fehlen Fähigkeiten, die zur Ausführung des Drehs benötigt werden. Ab und zu sind es auch einfach Hemmnisse, zu deren Überwindung die Mittel oder auch nur die Bereitschaft fehlt. Je nach Budget wird dann ein Double engagiert, der die entsprechenden Passagen übernimmt. Dies entpuppt sich in Schriftstücken jedoch als äußerst kompliziert. Wie kann so etwas bei einer fiktiven Person passieren?

Einer der Phantasie entsprungenen Gestalt sollte es doch möglich sein, alles zu tun, was von ihr gefordert wird. Und da liegt der große Irrtum. Mit dem ersten Wort in der Beschreibung eines Charakters, der in einer Geschichte verwendet wird, nimmt die beschriebene Person mehr Facetten an, als es dem Schreibenden bewusst ist. Die alleinige Definition, dass sie zum Beispiel Höhenangst hat, reicht eventuell bis in die noch nicht aufgedeckte Kindheit zurück, in der irgendetwas vorgefallen sein muss, dass zu dieser Angst führte. Die Psyche der eigenen Schöpfung bildet sich mit jedem Wort, das niedergeschrieben wird. Ein Protagonist mit Höhenangst würde niemals freiwillig eine schwankende Brücke begehen, oder nur mit schwerwiegenden Problemen eine Freitreppe überwinden können. Stellen Sie sich mal eine Person mit panischer Angst vor Wasser vor, die auf ein Schiff gehen soll. Die hydrophobische Person benötigt eine starke Motivation, die ihre Angst übersteigt, sonst ist die Szene auf dem Schiff undenkbar. All diese Scharten in der Fassade der eigenständig agierenden Kreationen, die die Quintessenz der zu schreibenden Geschichte darstellen, wirken auf das, was zu Papier gebracht werden soll. Im schlimmsten Fall kommt es dann zur Revolution der Charaktere. Als dies bei mir das erste Mal passierte, war ich überrascht, ja fast schon geschockt. Ich fragte ich mich allen Ernstes, ob es jetzt so weit sei, dass ich mich in Behandlung begeben muss.

Einer der Lehrsprüche für Autoren lautet, »Realität ist Fiktion und Fiktion ist Realität«. Das jeder die Realität ein wenig beschönigt ist wohl bekannt. Dies gilt für Urlaubserlebnisse, Gründe für Entschuldigungen, die eigene Vergangenheit im Lebenslauf oder den geforderten Fähigkeiten. Ehrlichkeit ist zu meinem Bedauern ein seltenes Gut geworden. Wenn du dich umschaust, wirst du genügend Beispiele für diese Art der (nicht nur) Selbsttäuschung finden, die auch als eine Fiktionalisierung realer Umstände bezeichnet werden kann. Was nicht in das eigene Weltbild passt, wird schöngeredet, ignoriert oder als Fakenews bezeichnet. Die Realität wird zu Fiktion, die immer noch als Realität wahrgenommen werden soll und leider auch wird. Dies geht bis hin zu vollkommener Entfremdung von der Realität und stellt, spätestens zu diesem Zeitpunkt, eine ernst zu nehmende psychische Erkrankung dar.

Schöpfer fiktiver Welten sind die andere Seite der Medaille. Hier wird bewusst eine Welt erfunden, bei der von Anfang an Konsens besteht, dass es Fiktion ist. Jeder Erfinder kennt dies zu genau. Nehmen wir die Glühbirne. Thomas Alva Edison, US-amerikanischer Geschäftsmann und Erfinder unzähliger Dinge, wollte Licht in alle Wohnungen dieser Welt bringen. In seiner Phantasie sah er, wie sein künstliches Licht unzählige dunkle Kammern in wohnliche Räume verwandelt. Die Menschen sollten nicht mehr eine Geisel der Nacht sein. Die Produktivität von Firmen konnte gesteigert werden, weil auch nach Sonnenuntergang weitergearbeitet werden konnte, ohne dass sich die Arbeiter die Augen ruinierten. Eine Fiktion wurde zur Realität, die wir jeden Tag zu schätzen wissen, oder zumindest schätzen sollten.

Die zur Realität gewordene Phantasie ist Teil unserer Arbeit als Autor, sobald wir eine neue, in sich stimmige Welt kreieren. Eine Welt, in der unsere Leser sich freiwillig entführen lassen. Eine Welt, in der unsere Charaktere ein eigenes Leben führen, sofern wir es zulassen. Eine Welt, in der die von uns Autoren erschaffenen Geschöpfe die unveräußerliche Freiheit besitzen, gegen uns rebellieren, sobald wir deren Bedürfnisse auf sträflichste vernachlässigen.

Wenn es hakt, gibt es drei Möglichkeiten zur Lösung.

  • Prokrastination, bis hin zur Aufgabe des Projektes, zählt zu den nicht lösungsorientierten Varianten und sei hiermit einfach nur erwähnt.
  • Das Erlkönig-Prinzip, basierend auf dem Zitat von Goethe: »und bist du nicht willig, so brauch' ich Gewalt«. Die Brechstange ansetzend wird zusammengefügt, was nicht zusammenpassen mag. Das Ergebnis liest sich meist entsprechend gequält.
  • Am liebsten ist mir die sanfte Variante. Falls du mal in der Situation bist, dann rede einfach mal mit deinen Charakteren. Fertige für die wichtigsten Wesen deiner Geschichte Lebensläufe an. Führe Interviews und frage nach, wo der Schuh drückt. Als Schöpfer jeder einzelnen Figur in deinem Werk wohnt ein Teil von dir in allem, was du geschaffen hast. Deine Fiktion basiert auf deiner selbst erlebten Realität. Es wäre eine unentschuldbare Verschwendung das ungenutzt zu lassen. Gehe mit deinen Figuren spazieren und diskutiere das, was eurer Meinung nach schiefläuft. Spätestens dann wird dir die Tiefe der Kreationen, die aus deiner eigenen Feder entsprungen sind, bewusstwerden. Die Lösung wird dir dann schneller offenbart, als du es dir je erträumt haben wirst. Bedenke jedoch, dass eine Diskussion ein Dialog ist, in dem beide Seiten zu Wort kommen sollten. Dies gilt auch, wenn dein Gegenüber nicht aus Fleisch und Blut ist.

Das Fazit daraus lautet:
Ein Buch ist kein Kampf, oder sollte es zumindest nicht sein. Das leere Blatt ist die Chance, das zu offenbaren, was schon lange in dir schlummert und deshalb erzählt werden sollte. Das Einzige was dazu nötig ist, ist die Bereitschaft sich bedingungslos zu öffnen und das loszulassen, was in jeglicher Hinsicht am meisten fesselt.

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